Sie wahrte den Abstand eines scheuen Hundes, der sich einer fremden Karawane anschliesst. Es war 2002 im Jahr des Windpferdes und meine siebte Reiseleitung um den heiligen Berg Kailash in West
Tibet, dieses mal mit einer fitte Frauengruppe, ich selbst war gerade von mehreren Retreats zur grünen Tara inspiriert. Also machten wir so vielen Niederwerfungen wie es uns auf 5000m Höhe
möglich war, dabei sangen wir die Anrufung an die 21 Tara wieder und wieder, sogar im Kanon. Das war befremdlich und faszinierend für die tibetischen Pilger. Sie hatte uns beobachtet und folgte
uns.
Als Abends die Zelte in der Nordwand des Kailash aufgeschlagen waren huschte sie ins Küchenzelt zu der nepalesischen Mannschaft. Dort ist es warm und es gibt gutes Essen. Aber mit sechs Männern
kein geeigneter Ort zum Übernachten für eine junge, hübsche, zarte Nonne in rotem Gewand. Da ich im Einzelzelt schlief und die Nächte auf der Kora hoch und klirrend kalt im Frühling sind, kam Sie
zu mir. Sie hockte sich stumm in die Zeltecke, es gab nur eine Iosmatte für Sie, wir mussten den Schlafsack teilen. Sie machte sich fertig zum Schlafen, indem sie den Inhalt der Bauchfalte ihres
roten Gewandes in die Zeltecke legte: Zerbröselte Kekse, ein kaputter Kassettenrekorder, zwei zerbrochene Armreifen und einige Münzen. Dann rollte sie sich auf eine Seite mit angewinkelten Beinen
und rührte sich nicht mehr bis zum Morgen. Ich zog Sie vorsichtig aber bestimmt zu mir hin, damit mein Schlafsack für uns beide reicht. Sie roch warm nach Erde und alter Butter. Am nächsten
Morgen als ich erwachte saß Sie bereits von meinem Zelt, genau so zusammen gekauert und bewegungslos wie sie die Nacht verbracht hatte. Als nach dem Frühstück die Karawane aufbrach folgte Sie uns
wieder im Abstand eines scheuen Hundes. Am Ende der Kora laufen wir auf Darchen das Basislager zu, vor dem Ort war ein Zeltkamp für tibetische Pilger aufgeschlagen. Rauch stieg aus den
weiß-blauen Zelten empor. Sie bog von uns ab und verschwand in eines der Zelte. Wir haben in den 2 Tagen kein Wort miteinander gesprochen. Später erzählten mir die Nepalis das Sie aus Osttibet
stammt und im Auftrag ihres ganzen Dorfes unterwegs war um während der Saison zwischen April und Oktober so oft den Kailash und den Manasarowar See zu umrunden wie möglich. Diese Reise wird von
den Dörflern finanziert und Sie wäscht das Karma des ganzen Dorfes durch die Koras rein. Sie hatte bei unserem Treffen bereits elf mal den Manasarowar See und 9 mal den Kailash umrundet. Dann
fuhr Sie vermutlich im Frachtraum eines LKW's versteckt wieder zurück nach Ost Tibet.