In diesem äußeren Kranz des samsarischen Rades symbolisieren 12 Bilder jene Abläufe unseres Bewusstseins, die dazu führen, dass wir uns immer wieder in Samsara verfangen.
Hier wird eine Art Anatomie unseres konditionierten Lebens beschrieben. Dabei bilden diese 12 Stationen eine kausale Kette, bei der ein Glied mit den anderen verbunden ist.
Es ist wie die Geschichte von dem Reiter, dem Pferd und dem verlorenen Land:
Reiter und Pferd zogen in die Schlacht. Ein Hufnagel des Pferdes war locker und löste sich im Trab. Daraufhin verlor das Pferd sein Hufeisen. Es stolperte – Pferd und Reiter stürzten, die Schlacht wurde verloren, das Land von Feinden erobert. Ein lockerer Hufnagel führte zum Verlust des Landes.
Abhängiges Entstehen, so werden die 12 Nidanas auch genannt, geschieht sowohl in jedem Moment, als auch über mehrere Leben hinweg, denn die Eindrücke, die wir in diesem Leben sammeln, bilden die Grundlage für eine neue Geburt, in welche wir durch karmische Winde geweht werden.
Buddha Einsichten unter dem Bodhibaum, die zu seinem Erwachen führten.
Gautama Siddharta hatte in 6 Jahren als Asket keine Antwort gefunden auf seine brennende Frage nach der Ursache von Leiden, Alter, Krankheit und Tod. Ausgemergelt und kraftlos entschied er sich daher für den „mittleren Weg“ zwischen den Extremen von Völlerei und Askese, denn für einen Geist der in die tiefe Dynamik unserer Existenz vordringen möchte, braucht es ein wohl funktionierendes Gehirn und einen gesunden Körper.
Zu Vollmond im Mai badete Siddharta im Fluss und setzte sich danach auf ein Bündel Kushagras unter einen Bodhi Baum (Ficus religiosa). Er hatte den festen Entschluss, erst dann wieder aufzustehen, wenn er die Antwort auf seine Fragen nach der Ursache des Leidens gefunden hatte – und sollte dies sein Leben kosten. Er suchte kein Glück, oder geistige Stille durch Meditation, er wollte den Kreislauf der wiederkehrenden Geburten – Samsara- durchbrechen, um nicht erneut in dieser Welt geboren zu werden.
Dann begab er sich in meditative Versenkung.
Sehr bilderreich berichtet die Legende von den vielen Ablenkungsversuchen seines Schatten Dämons, dem Teufel - hier Mara genannt. Doch Siddharta blieb allen Anfeindungen und Versuchungen gegenüber standhaft und verweilte in tiefer Meditation.
Dabei tauchte er in eine immer umfassendere Schau ein, welche in den vier Nachtwachen beschrieben wird:
In der ersten Nachtwache öffnete sich sein Weisheitsauge auf seinen eigenen Weg. Er erkannte die Umstände seines jetzigen Lebens und wie diese als Resultat seiner vorhergehenden Leben entstanden sind. Er schaute die Handlungen seiner früheren Leben die dazu geführt haben, dass er nun unter dem Bodhibaum saß.
In der zweiten Nachtwache weitete sich sein Weisheitsauge und er schaute die jetzigen und vorherigen Leben aller Wesen. Dabei erkannte er die karmischen Bedingungen, welche sich über viele Leben formierten und dazu führten, dass die Wesen so leben, wie sie gerade leben.
In der dritten Nachtwache sah Siddharta voller Klarheit, wie die 12 Glieder des abhängigen Entstehens, die 12 Nidanas, miteinander verknüpft sind:
Tod folgt auf das Altern, Altern und Krankheit sind wiederum die Folge von Geburt.
Die Geburt folgt auf die Schwangerschaft, also das Werden,
Werden folgt auf das Greifen, das Greifen auf das Verlangen,
dieses auf Empfinden von Haben-Wollen oder Nicht-Haben-Wollen, diese folgen auf den Kontakt mit den Objekten, ein Kontakt des Objektes durch unsere Sinne, welche zu unseren Körpern gehören, in
dem ein illusionäres „Ich-Gefühl“ mit karmischen Neigungen wohnt.
Letztlich ist unsere Unwissenheit die Wurzel allen Leidens im Samsara, durch das wir blind und von unseren karmischen Gewohnheitsmustern angetrieben immer wieder im Kreis wandern.
Damit fand Siddharta sowohl die Ursache des Leidens im Rad des Lebens und der Wiedergeburt als auch den Ausweg aus dem Leiden:
Wenn dieses ist, dann ist auch jenes...
entsteht dieses, dann entsteht auch jenes.
hört dieses auf, dann hört auch jenes auf.
Sobald wir aus der Unwissenheit erwachen und nicht mehr blind und automatisch unseren Mustern von Habenwollen und Wegschieben folgen, brauchen wir nicht mehr zu greifen.
Somit gibt es kein neues Werden mehr, keine Geburt, kein Leiden, keine Krankheit, kein Altern und keinen Tod. Das Rad kommt zum Stillstand.
Die Kettenglieder des „Entstehens in Abhängigkeit“, bedingen sich gegenseitig. Dabei dehnen sie sich über mehrere Leben hinweg durch das Verweben von Ursache und Wirkung, unseres Karmas. Aber sie ereignen sich auch in jedem Moment unseres Lebens.
Hier folgen die 12 Nidanas im samsarischen Rad und ein Beispiel, wie wir sie an einem Abend durchlaufen könnten.
1. Avidya – die alte blinde Frau mit einem Stock – Unwissenheit und Ignoranz
Da uns die meisten unserer Impulse, Glaubenssätze und Gewohnheiten nicht bewusst sind,
handeln wir unbewusst unseren Neigungen und Abneigungen folgend, ohne diesen Automatismus zu bemerken. So führen wir ein reaktives Leben, indem wir unreflektiert unseren inneren Strömungen folgen.
Avidya ist ein Klesha, eine Trübung des Geistes in Form von alten Mustern, übernommenen Vorstellungen und geprägten Ansichten, die uns belasten.
Avidya ist der wichtigste Faktor für die Entstehung unseres Egos.
Wir wurden auf eine Party eingeladen und weil uns zu Hause langweilig ist, gehen
wir zu der Party, ohne jemanden zu kennen. Wir fühlen uns ein wenig gefroren und betäubt,
dabei glauben wir, eine erhöhte Selbstwahrnehmung zu haben.
2. Samskara – ein Töpfer mit einer Töpferscheibe - karmische Formationskräfte, die sich in unserer Stimmung, dem Charakter oder Naturell ausdrücken
1. Avidya und 2. Samskara sind die Grundlage für die Entstehung von Karma. Karma wird durch unsere Handlungen mit Körper, Sprache und Geist geformt.
Karmische Impulse können heilsam, unheilsam oder neutral sein. Damit wird die Richtung der weiteren Glieder eingeschlagen.
Zwischen dem zweiten und dritten Glied liegt eine Ausgangstür, denn hier können wir uns entscheiden, ob wir einem Impuls weiter folgen wollen, oder ob wir eine andere Richtung einschlagen.
Nun können wir ja nicht die ganze Nacht in der Eingangstür zur Party stehen, also
orientieren wir uns, schauen wo es uns hinzieht. Fassen wir die Bar, oder einen Menschen
oder die Tanzfläche ins Auge?
3. Vijnana – ein Affe im Baum - Bewusstsein, welches das Potential für eine neue Identifikation birgt
Es formt sich durch unseren Charakter und seinen Neigungen.
Wir sind noch ein wenig schüchtern auf der Party. Bevor wir Kontakt suchen, gehen
wir erst mal an die Bar. Immerhin haben wir damit einen Einstieg in die Party gefunden.
4. Namo-Rupa - ein Mann in einem Boot mit vier Ruderern – Geist und Körper
Die Glieder 4 – 7 sind die unpersönliche Eigenschaften unseres Körpers und Geistes die jeder hat. Sie sind die Auswirkungen von 1. der Unwissenheit, von 2. den karmischen Formationskräften und von 3. unserem Charakter
Namo-Rupa bezeichnet die 5 Skandhas und damit alles Geistige und Körperliche aus dem wir bestehen:
1. Der Körper
2. Das Gefühl: angenehm, unangenehm oder neutral
3. Die Wahrnehmung - sie ist komplexer als das Gefühl. Hier erkennen und unterscheiden wir körperlicher oder geistigen Objekte.
4. Die Geistigen Formationskräfte - diese sind unser Wille, Interesse, Sehnsüchte, Glaubenssätze, Handlungsabsichten, und unser Karma.
5. Unser Bewusstsein - hier ist die Summe aller anderen Faktoren gemeint und das
Gewahrsein davon.
Auf unserer Party an der Bar stehend, fangen wir an uns wohl zu fühlen. Wir sind
angekommen. Nun können uns nun wirklich spüren und entwickeln Selbstvertrauen.
5. Shadayatana – ein Haus mit 6 Fenstern - die Sinnesfunktionen
Hier sind unsere Sinne entstanden, wir sehen, riechen, hören, schmecken, spüren und
denken. Damit erkennen unsere Sinne ihre Objekte: das Gesehene, das Gehörte, das Gespürte, das Gerochene, das Geschmeckte, das Gedachte.
Unserer Selbst gewiss, halten wir nun an der Bar stehend nach jemandem Ausschau, den wir
kennen lernen möchten.
6. Sparsa – ein Paar in einer Umarmung - der Kontakt
Durch unsere Sinne und unseren gerichteten Geist erkennen wir ein Objekt und stellen einen Kontakt her.
Unser Blick fällt auf eine interessante Person, die Blickkontakt sucht.
7. Vedana – ein Mann mit einem Pfeil im Auge - das Gefühl, die Emotion
Es werden drei Arten von Gefühlen unterschieden: angenehme-, unangenehme- und neutrale Gefühle.
Hier liegt eine weitere Ausgangsmöglichkeit aus Samsara: Wenn wir unsere Gefühle bemerken und in Gleichmut geübt sind, können wir frei entscheiden, ob wir den angenehmen-, unangenehmen-, oder neutralen Gefühlen folgen – oder nicht.
Diese Person sieht gut aus, sie ist attraktiv, unserer Aufmerksamkeit würdig. Wir fühlen uns gut.
8. Thana – ein Bier trinkenden Mann – Durst, Sehnsucht, Verlangen
Aufgrund unserer Gefühle entsteht der „Ich will“, oder der „Ich will nicht“ Geist. Wir wollen das Objekt welches angenehm ist haben - und das Objekt des unangenehmen Gefühls loswerden.
Wir spüren das Bedürfnis, mit diesem Menschen in Kontakt zu treten, denn wir
fühlen uns ein wenig einsam und verloren auf der Party.
9. Upadana – ein Affe, der Früchte pflückt - Greifen, Gier
Nun entstehen unsere Konzepte, Gedanken, Ideen, Vorstellungen über „Ich„ und „Mein“
Wir haben uns auf diese Person fixiert, denn sie gefällt uns. Wir überlegen, wie wir uns annähern können. Auf jeden Fall ist unsere Wahl getroffen.
10. Bhava – eine schwangere Frau– Werden oder Sein
Dies ist unser persönliches Archiv von gewohnheitsmäßigen Reaktionen.
Mutig gehen wir hinüber und sprechen diesen Menschen an.
11. Jati - eine gebärende Frau– Geburt oder Wiedergeburt
Die Geburt einer Handlung, gedanklicher, körperlicher oder sprachlicher Natur, oder die Geburt einer neuen Existenz (Wiedergeburt).
Wir unterhalten uns und eine Beziehung entsteht.
12. Jara Marana – eine Leiche und ein Leichenträger- Alter und Tod, Schmerz und Klage
Nach einer Weile gerät die Unterhaltung ins Stocken, unser Focus beginnt nachzulassen, das was uns interessiert hat verblasst. Wir beenden das Gespräch und bleiben alleine zurück.
Dieser Eindruck speichert sich in uns ab und es beginnt eine neue Runde.
1.Avidya-Ignoranz
Zurück an der Bar sind wir erneut alleine. Da lohnt sich ein weiterer Drink, denn wir glauben, dass es keine für uns interessanten Menschen hier gibt. Wieder einmal mehr glauben wir das.
2. Samskara – karmische Formationskräfte.
Der Eindruck, dass das gegenseitige Interesse schnell nachlässt lagert sich in uns ein.
3. Vijnana – das Bewußtsein
Eine Woche später sind wir erneut auf eine Party eingeladen und wir gehen zögerlich dorthin, denn wir wissen noch von letzter Woche, dass wir keine interessanten Kontakte knüpfen werden. Diese vorsichtige Überheblichkeit macht es wahrscheinlich, dass wir wieder den Abend alleine an der Bar stehen…
Die 12 Nidanas erklären den Werde-Prozess des Menschen, ohne auf die Vorstellungen eines Schöpfers oder eines ewigen Selbstes zurückzugreifen. Jedes Glied ist durch das vorhergehende bedingt und Bedingung für das folgende. Karma entsteht und wirkt von Moment zu Moment und von Leben zu Leben.
Doch nun zurück zu Siddharta Gautama:
Nach dieser Schau der 12 Glieder des abhängigen Entstehens, sowie der Einblicke in die karmische Kette der wiederkehrenden Existenzen, fügten sich seine Erkenntnisse in der vierten Nachtwache zusammen zu den vier edlen Wahrheiten, die daraufhin den Kern von Buddhas Lehre bilden:
1. Das Leben ist von Leiden durchdrungen,
2. Das Leiden hat eine Ursache,
3. Es gibt einen Ausweg aus dem Leiden
4. Der Weg ist der 8fache Pfad.
Im Morgengrauen fiel der letzte Schleier im Geiste von Siddharta, und damit wurde sein Erwachen zum Buddha vollendet und unumkehrbar. Er sprach:
„Den Kreis zahlloser Geburten durchwanderte ich auf der Suche nach dem Hausbauer.
Hausbauer, du bist entdeckt, deine Dachsparren und der Firstbalken sind zerstört –
nie wieder wirst du ein Haus bauen. Dies war meine letzte Geburt.“
Wenn wir uns von diesen Nachtwachen inspirieren lassen und über den inneren Prozess nachsinnen, durch den Siddharta zum Buddha wurde, dann bekommen wir einen tieferen Einblick in die Dynamik, die unser Leben bestimmt. Wir können dem Strom zumeist unbewusster Impulse einfach weiter folgen, aber wir können an einer größeren Bewusstwerdung arbeiten und sollten wissen, dass wir ständig eine Wahl haben.
Zwischen einem Reiz und unserer Reaktion gibt es einen Raum.
In diesem Raum haben wir die Chance, unsere Reaktion zu wählen.
In der Wahl unserer Reaktion liegt die Möglichkeit für Wachstum und Freiheit.
Victor. E. Frankl